Shirin Neshat Fervor, 2000. Production still, Courtesy Barbara Gladstone Gallery, New York Zwei Gestalten an einer Kreuzung zweier Pfade in der Wüste. Die linke ist tief verschleiert, eine schwarze, fast geometrische Figur, ganz schwarz und abstrakt. Die andere ein gutaussehender Mann in Anzug und weiþem, offenem Hemd, den Fuþ schon vorgeschoben zum Weitergehen - und trotzdem verharrt er in diesem Bildaugenblick und betrachtet die Gestalt. Auch wir betrachten sie. Das Verhüllte ist das Geheimnis, das Geheimnis bleiben soll und als solches neutral. Doch gleichzeitig zieht dieses Geheimnis, diese vorgebliche Neutralität, die Aufmerksamkeit auf sich, verlockt zum Verstoþ gegen das Tabu der Enthüllung. Die Autorin dieser Szene ist die gebürtige Iranerin Shirin Neshat. 1993 trat sie mit der Fotoreihe "Women of Allah" das erste Mal nach dem Kunststudium wieder als Künstlerin auf. Das Studium absolvierte sie in den USA, wohin sie 1975 gekommen war, vier Jahr vor der islamischen Revolution in ihrem Heimatland. Als sie 1990 zum ersten Mal wieder dorthin fuhr, hatte sich vieles verändert. Mit "Women of Allah" hat sie sowohl in der "westlichen Welt" als auch im Orient viel Beachtung und nicht immer Zustimmung gefunden; beides freilich aus verschiedenen Gründen. Hauptthema ist die Verhüllung, das Verhällte und das Gezeigte, das Offensichtliche und das Verborgene. Shirin Neshat ist eine Exilantin, eine Grenzgängerin, und so bewegt sich auch ihre Kunst in Zwischenräumen: zwischen Orient und Okzident, klassischer Bildkunst und engagiertem Feminismus, "stehenden" und "laufenden" Bildern, interaktiver Videoinstallation und Film. Und als Grenzgängerin ist sie modern; sie entscheidet sich nicht für eine Seite der Grenze, weder für oder gegen den Tschador, für oder gegen den Feminismus, für oder gegen den Gottesstaat (oder den Kapitalismus), sondern sie hat als Grenzgängerin ihren eigenen Standpunkt, von dem aus sie beide Seiten für sich interpretiert, ohne sie aber in ihrer Eigenart unkenntlich zu machen. Auf diese Weise ist sie modern, und das weiss sie. Sie ist up to date, sie ist en vogue, weil sie sich eben nicht entscheidet, und das gerade ist ihre Stellungnahme. Mit ihren Videos stellt sie das Publikum buchstäblich auf diese Grenze: es steht zwischen den Dichotomien, die auf gegenüberliegenden (Lein)Wänden stattfinden. Die Männer tun Unverständliches, sie werden handgreiflich, klettern auf Leitern in Städten herum oder betrachten die Frauen, doch nur, wenn diese zuvor auf sich aufmerksam machen (so in "Rapture"), oder singen vor einem aufmerksamen, männlichen Publikum Lieder, die einer langen Tradition angehören (so in "Turbulent"). Kurz, Männer tun auf sehr einsehbare Weise Irrationales, und meinen, es sei schon aufgrund seiner langen Tradition rational. Ganz anders die Frauen: sie laufen verschleiert, wie sie eben sind, durch die Wüste, machen die Männer auf sich aufmerksam, und ein paar steigen schlieþlich in ein Boot und fahren aufs offene Meer hinaus, wo nichts ist (in "Rapture"). Frauen singen nicht, sie schreien, jauchzen, ächzen, stöhnen, und das ohne Publikum und demnach ohne Applaus. Frauen tun das unvorhersehbare Irrationale, das keine Tradition hat. Der zweite Eindruck, den aber sicher so mancher bei den Videos von Shirin Neshat gewinnt, nachdem er sich zuerst beeindrucken hat lassen, wird vielleicht der der Durchschaubarkeit sein. Shirin Neshats Kunst ist plakativ, selbst und gerade die offenen Fragen sind gemacht, gekünstelt. Künstlichkeit kann interessant sein, hat nur wenig mit Kunst zu tun. Und das Niemandsland zwischen den Grenzen ist ohnehin schon überbevölkert. Michael Wögerbauer.
Die Bilder und Videoinstallationen von Shirin Neshat sind
von 28. Juli bis 10. September in der Londoner "Serpentine
Gallery" (10 am - 6 pm) zu sehen. Eintritt frei. IMAGES : www.serpentinegallery.or |